GIESSEN – Der Corona-Lockdown dauert an. Viele Geschäfte sind weiterhin geschlossen. Die Reparatur von Fahrrädern und die Versorgung mit Ersatzteilen soll aber sichergestellt sein. Dafür zeigt die mittelhessische Fahrradbranche vollen Einsatz.
Während des Corona-Lockdowns sind „Ersatzteilverkaufsstätten für Fahrräder“ sowie „Fahrradwerkstätten“ geöffnet. Die Sicherstellung der Ersatzteilversorgung und Reparatur kann als Zeichen für den Stellenwert des Fahrrades gewertet werden, den es als anerkanntes Verkehrsmittel der Alltagsmobilität erreicht hat.
„Als Allgemeiner Deutscher Fahrradclub begrüßen wir, dass Fahrradwerkstätten und Ersatzteilverkaufsstätten geöffnet sind, denn es geht darum, die Alltagsmobilität zu ermöglichen und die findet natürlich bei vielen Personen per Fahrrad statt. Damit Menschen weiterhin zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Arbeit kommen, muss sichergestellt sein, dass sie ihr Fahrrad auch repariert bekommen oder selber Ersatzteile kaufen können.“, sagt Jan Fleischhauer vom ADFC Kreisverband Gießen.
Trotz des Lockdowns geöffnet haben zu dürfen freut die Unternehmerinnen und Unternehmer, doch es verlangt von ihnen auch eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Anstrengung – organisatorisch und körperlich. „Das Jahr 2020 war brutal. Ich war von Ende Februar bis Anfang August jeden Tag am arbeiten und selbst von Oktober bis Dezember war noch richtig was los. Bei anderen Kollegen sah das nicht anders aus. Wirtschaftlich top, aber für die Erholung nicht gut.“, sagt Martin Fügert von MF Bikes in Gießen.
Kontakte radikal reduziert
Die sonst ruhigere Wintersaison steht diesmal der Sommersaion in nichts nach. Als der „Lockdown light“ Anfang November 2020 ausgerufen wurde, mussten rasch Lösungen her, um die Abläufe im Tagesgeschäft den neuen Auflagen anzupassen. Der Kundenkontakt für Reparaturannahmen oder Ersatzteilverkauf wurde radikal reduziert und kurzerhand vor den Laden verlegt. Auch vor pragmatischen Lösungen hatte man keine Scheu: Weil das Kabel des Kartenzahlung-Terminals zu kurz war, um vor dem Laden kontaklos zu zahlen, wurde auf Rechnung verkauft, bis das neue Terminal verfügbar war. Für die lange geplante Renovierung des Ladenlokals schloss Fügert Anfang des neuen Jahres dann aber kurz ein paar Tage. Auch das war mit vollem Einsatz in kurzer Zeit erledigt und die Werkstatt brummte weiter.
Der Umgang mit den Lockdown-Bedingungen ist inzwischen auch für die Kundschaft absolut routiniert. Auf den Internetseiten und in den Social-Media-Kanälen der mittelhessischen Fahrradbranche ist nachzulesen, wie die Abläufe im Detail organisiert sind, um Reparaturen durchführen zu lassen, Ersatzteile zu bekommen oder im Lockdown gelieferte neue Fahrräder in Empfang zu nehmen.
Organisatorisch hat sich der Radsporthandel sehr gut auf die neuen Umstände eingestellt, um für seine Kundinnen und Kunden den Zugang zu Ersatzteilen oder bestellten Fahrrädern zu ermöglichen. Für die Händler wird es aber immer schwerer bestimmte Ersatzteile oder Fahrradmodelle zu beschaffen, wie Radsportnachrichten.com-Redakteur Matthias Steinberger selbst festgestellt hat:
Von Matthias Steinberger:
„Die Probleme sind für nahezu alle Fahrradläden gleich: Die Lieferung einfachster Fahrradteile, wie beispielsweise Pedale, werden zu einer Herausforderung. Neu bestellte Fahrräder, so fern sie irgendwann tatsächlich ankommen, erhalten Händler stets ohne Pedale. Kürzlich teilte mir ein Fahrradshop mit, dass er teilweise bis zu sechs Wochen auf Pedale warten muss. Er braucht sie dringend für noch unausgepackte Fahrräder, die Kunden online kauften und bei ihm abholen möchten. Gleiches Prozedere erleben die Fahrradläden auch für viele weitere Einzelteile. Wer ein neues Schaltwerk benötigt, erhält kaum noch eine Auswahl und muss nehmen, das glücklicher Weise noch im Regal liegt. Ein Ladenbesitzer nannte es mit etwas Humor „Osten 2.0“. Selbst ich erhalte in Onlineshops kaum noch lagernde Ersatzteile. Entweder sind sie ausverkauft oder erst in etlichen Wochen lieferbar. Wer sich über Weihnachten Geld ansparte und mit dem Gedanken spielte, sich ein neues Bike zu kaufen, der kann von Glück reden noch im Sommer oder vor dem Jahr 2022 beliefert zu werden. Ein regionaler Laden teilte mir für einen Hersteller aus Hamburg mit, dass sämtliche Modelle oder einzelne Größen bereits ausverkauft sind und ab Werk keine aktuellen Modelle nachproduziert werden. Sie sind schlicht und ergreifend am deutschen Markt vergriffen – obwohl noch gar nicht ausgeliefert. Ein befreundetes Paar bestellte im Herbst vergangenen Jahres zwei Fahrräder eines spanischen Herstellers und erhält sie voraussichtlich im Mai oder Juni 2021.
Händler dürfen keine Kunden im Laden bedienen. Werkstattaufträge und Beratungen erfolgen vor der Eingsngstür. Viele Händler bieten deshalb ihre Bikes auf Online-Plattformen an, um ihr Sortiment, das man sich vor Ort nicht ansehen darf, zum Verkauf anbieten zu können. Dadurch erfährt man wenigstens, welche Fahrräder überhaupt noch erhältlich und sogar sofort verfügbar sind. Letzteres ist derzeit ein Sechser im Lotto. Verzeinzelt legen Kunden weite Strecken quer durchs Land zurück, um das vermeintlich letzte verfügbare Modell ihrer Begierde persönlich abzuholen. Das ist ziemlich erschreckend! Für gewöhnlich füllen Händler ihre Lager im Januar/Februar und hoffen auf den Verkauf aller im vorangegangenen Herbst ausgelösten Bestellungen – über die gesamte Saison verteilt. Die nun noch immer nicht ausgelieferten Fahrräder sind bereits allesamt – von Kunden ungesehen – reserviert oder gar verkauft. Da kommst Du als interessierter Kunde nicht mehr heran! Deshalb: wer sich dieses Jahr für den Kauf eines Fahrrades entscheidet, der wird es je nach Modell und Größe unter Umständen nicht mehr bekommen. Auch zu keinem späteren Zeitpunkt des Jahres, weil danach erst wieder die 2022er Modelle erhältlich sind. Äußerst ärgerlich für diejenigen, die sich bereits in ein farbliches Design verliebten, das dann ggf. komplett anders aussehen wird.“
„Der direkte Verkauf innerhalb unserer Räume darf zurzeit nicht stattfinden – unsere Kunden können uns aber innerhalb unserer Öffnungszeiten über alle Kanäle, das heißt telefonisch, per E-Mail oder über unseren Onlineshop erreichen“, schildert Storemanager Dirk Keßler den Ablauf bei Bikes’n Boards an den Standorten in Butzbach und Wetzlar. Die Abholung der Ware und das kontaktlose Bezahlen finden auch hier, einem strickten Hygiene-Management folgend, vor dem Ladenlokal statt. Bereits bestellte Neuräder, welche in der Zwischenzeit angeliefert wurden, können abgeholt oder nach Absprache mit dem Verkauf auch ausgeliefert werden. Ebenfalls möglich ist der Versand vieler Artikel.
Mehr als ein Fortbewegungsmittel
Die mittelhessische Fahrradbranche hat sich also viel einfallen lassen, um die Versorgung der Fahrrad fahrenden Bevölkerung auch während des Lockdowns sicherzustellen. „Darüber hinaus ist es gerade jetzt wichtig, dass die Menschen auch weiterhin Sport machen, wenn Fitnesstudios und Sporthallen geschlossen sind. Wer sich aktiv bewegt, entlastet das Gesundheitssystem. Als kontaktlose Sportart mit Abstand ist für die Gesundheit das Radfahren besonders gut geeignet.“, unterstreicht Jan Fleischhauer vom ADFC Kreisverband Gießen den weiteren Nutzen des Fahrrades über die Alltagsmobilität hinausgehend.
(Text: Stephan Dietel | Titelfoto (Archiv): Matthias Steinberger)
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Stephan Dietel
Er wohnt im Gießener Ortsteil Rödgen und legte im Jahr 2001 mit Erlebnisberichten über selbst gefahrene Radrennen den Grundstein. Mit großem Interesse am Radsport und am Journalismus entwickelt er mit seinem Team die Radsportnachrichten aus Mittelhessen immer weiter.