GIESSEN – Wenn am 5. September die hessischen Sommerferien vorüber sind und es mit dem Schulunterricht weitergeht, dürfte auch das Fehlen von Abstellanlagen für Fahrräder an Gießener Schulen wieder deutlich werden, erwartet der ADFC Gießen in einer Pressemitteilung.
Im Jahr 2009 beschlossen die Stadtverordneten in Gießen einstimmig, dass bis zum 31. Juli 2012 an allen städtischen Schulen hochwertige Fahrradabstellanlagen nach Stellplatzsatzung geschaffen werden sollen. Doch nach Auskunft des Magistrats ist der Beschluss immer noch nicht umgesetzt. Das nimmt die Gießener Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) zum Anlass, die Thematik erneut zu beleuchten.
Auf dem Weg zur Schule wird das Fahrrad in Gießen von immer mehr Schülerinnen und Schülern genutzt, belegen Erhebungen. Die eigenständige Mobilität stärkt auch das Selbstbewusstsein und Sozialverhalten der Kinder, wenn sie sich auf dem Schulweg ausprobieren und mit anderen Kindern interagieren können. Lehrkräfte berichten, dass Kinder, die den Schulweg zu Fuß oder per Rad zurücklegen, ausgeglichener und konzentrierter sind.
In den letzten Jahren hat die Stadt Gießen dies nicht nur durch Kampagnen wie das Schulradeln unterstützt, sondern sie hat seit dem Jahr 2009 auch über 1.700 neue Fahrradstellplätze an den Schulen geschaffen. Inzwischen gibt es an allen städtischen Schulen ein Grundangebot an Radstellplätzen, die rahmenfestes Anschließen ermöglichen. Fakt sei aber auch, dass an einigen Schulen das Stellplatzangebot immer noch deutlich zu gering sei, so dass zum Beispiel an der Grundschule West, der Herderschule oder der Ostschule viele Räder wild geparkt werden müssen, sagt der ADFC und belegt dies mit Fotos.
Lange verstrichene Frist
Eigentlich hätten diese Probleme seit zehn Jahren gelöst sein sollen, denn die Stadtverordnetenversammlung hatte einstimmig beschlossen, dass bis zum 31. Juli 2012 an allen Schulen Fahrradstellplätze gemäß der Gießener Stellplatzsatzung geschaffen werden sollen. Umgesetzt ist der Beschluss aber auch zehn Jahre nach Ablauf dieser Frist noch nicht, wie der Magistrat anlässlich einer Bürgeranfrage von ADFC-Gießen-Vorstandsmitglied Jan Fleischhauer einräumt. Einen neuen Termin, bis zu dem der Stadtverordnetenbeschluss umgesetzt sein werde, könne man nicht nennen, so der Magistrat. Nach Auskunft des Magistrats gebe es für die über 14.000 Schülerinnen und Schüler nach der Stellplatzsatzung an städtischen Schulen und Kindergärten einen Bedarf von 3.123 Fahrradstellplätzen, davon 749 in überdachter Form. Vorhanden seien gemäß der Erhebung aus dem letzten Jahr 2.544 Plätze, davon 408 in überdachter Form.
Für den ADFC ist es unbefriedigend, dass Beschlüsse der Stadtverordneten vom Magistrat nicht zeitnah umgesetzt werden. Er sieht aber auch die Stadtverordneten in der Pflicht, nicht nur Beschlüsse zu fassen, sondern im Haushalt auch die erforderlichen finanziellen und personellen Mittel für die Umsetzung bereitzustellen und selbst zu verfolgen, ob ihre Beschlüsse umgesetzt werden. Gerade wenn der Magistrat mitteilt, dass die Hauptursache für die fehlende Umsetzung das fehlende Personal und die fehlenden Finanzmittel seien, müsse die Stadtverordnetenversammlung dies als Alarmzeichen sehen und im nächsten Haushalt die fehlenden Mittel bereitstellen, meint der ADFC Gießen.
Beengter Platz und Baumaßnahmen
„Die Zuständigkeit für die Installation von Fahrradständern an den Einrichtungen liegt bei dem Gartenamt, das sich seit Jahren im Rahmen der finanziellen und personellen Möglichkeiten bemüht den rechnerischen Fehlbedarf auszugleichen. Schwerpunkt der Arbeiten wird zunächst auf den Ausgleich des generellen Fehlbedarfs durch Schaffung von Fahrradabstellmöglichkeiten gelegt, die kostenintensiveren Überdachungen in der Regel zurückgestellt. Besondere Schwierigkeiten entstehen an Schulen mit beengten Platzverhältnissen wie zum Beispiel der Liebigschule oder an Schulen, die durch Sanierungen oder andere Baumaßnahmen eingeschränkt sind (Ost-, Herderschule, Gießen West). Ein größerer rechnerischer Fehlbedarf ist zurzeit noch bei fünf Gießener Schulen vorhanden, der nach Möglichkeit vordringlich ausgeglichen werden soll (Herderschule, Ricarda-Huch, Alice-, Wirtschaftsschule am Oswaldsgarten und Theodor-Litt-Schule)“, antwortete der Magistrat auf Fleischhauers Bürgeranfrage.
Hinweis auf Förderprogramm
An den Finanzen müsse eine Umsetzung gar nicht scheitern, denn es gäbe diverse Förderprogramme des Bundes und des Landes, die die Stadtverwaltung im Gegensatz zur Kreisverwaltung aber bisher an den Schulen nicht nutzten, obwohl der ADFC wiederholt darauf hingewiesen habe. „Immer wieder hören wir, dass die Stadt auf Fördergelder verzichtet, weil sie kein Personal habe, diese Fördergelder einzuwerben und abzurechnen“, so Jan Fleischhauer, der darauf verweist, dass Klimaschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Verkehrswende vom Bund vor allem über Fördergelder vorangebracht werden. „Wer hier nicht zugreift, braucht sich nicht wundern, dass im Verkehrsbereich seit vielen Jahren vieles so schleppend läuft.“, sagt Fleischhauer.
Novelle der Stellplatzsatzung gefordert
Unabhängig vom Tempo der Umsetzung hält der ADFC Gießen eine Novelle der Gießener Stellplatzsatzung für nötig. Im Stadtgebiet gäbe es inzwischen acht Schulen, die die Vorgaben der Stellplatzsatzung überträfen: So kämen an der Grundschule West und der Georg-Büchner-Schule beispielsweise weit mehr Kinder per Rad, als die Stadtverordneten es bei Beschluss der Stellplatzsatzung vor Jahren erwartet hätten. An der Grundschule West würden daher wie an anderen Schulen viele Fahrräder zum Beispiel an Bäumen oder Zäunen geparkt, weil die Nachfrage das Angebot deutlich überträfe. Der ADFC Gießen rät, dass die Stadtverordnetenversammlung die Stellplatzsatzung möglichst bald überarbeitet, so wie der Koalitionsvertrag es eigentlich auch vorsehe. Aus Sicht des ADFC wäre dies zugleich eine Maßnahme für mehr und günstigeren Wohnraum, denn die vorgegebene Schaffung von 1,5 Kfz-Stellplätzen pro Wohnung, würde die Schaffung von neuem Wohnraum teuer machen. In Gießen gibt es pro Haushalt im Durchschnitt 0,9 private oder dienstliche Pkw. 28,3% der Haushalte besitzen keinen Pkw. Hingegen besitzen die Haushalte im Durchschnitt 1,9 Fahrräder pro Haushalt. Die Stellplatzsatzung bildet dieses Mobilitätsverhalten, das im Jahr 2018 von der Technischen Universität Dresden bei einer repräsentativen Haushaltsbefragung in Gießen erhoben wurde, nicht ab.
Es fehlt auch an Überdachungen
Änderungsbedarf bei der Stellplatzsatzung sieht der ADFC auch beim Wetterschutz für die Fahrräder: Bisher müssen nur 25 Prozent der Radstellplätze an den Schulen überdacht sein. „Eine Stadt, die will, dass die Kinder auch an Tagen mit Regenschauern per Rad zur Schule kommen, sollte eine Möglichkeit zum trockenen Abstellen des Fahrrades anbieten.“, meint der ADFC Gießen. Auch die Landesregierung hält mehr Überdachungen für nötig: So empfiehlt sie den Kommunen in der Landesstellplatzsatzung, dass alle Stellplätze an den Schulen überdacht sein sollen. Der Magistrat der Stadt Gießen strebt im Bestand weiterhin eine Überdachungsquote von 25 Prozent an, die bisher noch nicht erreicht sei. Nur bei Schul-Neubaumaßnahmen wolle der Magistrat eine Überdachungsquote von 100 Prozent umsetzen. Doch in den nächsten Jahren sind keine Neubauten bei Schulen in Gießen geplant.